Wachstumsschmerz

Als ich gestern Abend mein Buch zuschlug und das Licht ausmachte, nahm ich mir vor heute ganz besonders produktiv zu sein. Mittlerweile ist es viertel nach fünf und ich beginne gerade erst meine ersten Zeilen zu schreiben. Für diese Verzögerung gibt es keinen triftigen Grund, ich bin einfach nur eine Meisterin der Prokrastination, eine militante Zeitverschwenderin. Ich schaffe es ohne Probleme einen ganzen Tag zu verplempern indem ich lese, ausgiebig Kaffee trinke, gedanklich Pläne schmiede, versuche Entscheidungen zu treffen und sie anschließend in Sprachnachrichten mit Freunden teile. Und das mache ich alles auch mit großer Hingabe – ich liebe meinen Reichtum an Freizeit. Nur ärgert es mich am Ende des Tages eben doch, wenn ich selbst nichts kreiert und somit meinen ungewissen Zielen kein Stückchen nähergekommen bin.

Immerhin konnte ich mich nun doch noch überwinden meinen Computer nicht nur wie ein Geier zu umkreisen, sondern ihn tatsächlich aufzuklappen. Jetzt noch eine Kerze anzünden und mich mit Räucherstäbchen olfaktorisch in den Tannenwald beamen. Abgerundet wird das Ambiente mit einer instrumentalen Winterwald-Playlist. Denn bei sanften Klavierklängen und Glockengebimmel, lässt es sich ja bekanntlich am besten fokussieren. Serviert wird dazu Früchtetee, weil mein Gewissen mir sagt, dass ich heute nicht schon wieder Rotwein trinken kann. Jetzt muss ich nur hoffen, dass nichts Unerwartetes passiert, wodurch ich meinen Flow am Ende doch wieder unterbrechen muss.

Allerdings frag ich mich gerade auch, wo der bleibt, dieser Flow. Normalerweise kommt er beim Schreiben. Allerdings habe ich jetzt schon zwei Absätze Unsinn erzählt, in der Hoffnung, dass sich die Story beim Schreiben von selbst findet. Sieht leider bisher nicht danach aus. Vielleicht war mein Tannenwald-Setting doch nicht die beste Wahl. Aber jetzt unterbrechen und zu Meeresrauschen wechseln, käme einer Kapitulation gleich. Dann wird das heute gar nichts mehr. Nein, ich schreibe jetzt so lange weiter, bis ich vor lauter Bratapfeltee aufs Klo muss und mir dann plötzlich einfällt, dass ich die Badewanne ja mal wieder putzen könnte.

Die Wahrheit ist, ich befinde mich in einem merkwürdigen Zustand. Vielleicht ist das der Grund, dass sich meine Kreativität heute nicht blicken lässt. Es fühlt sich an wie eine emotionale Schizophrenie. Natürlich bin ich nicht schizophren im klinischen Sinne (darüber macht man keine Witze, ich weiß), aber meine Gefühlslage scheint es durchaus zu sein. Sie wechselt ihre Persönlichkeit schneller als der namenlose Protagonist die seine in Fight Club und schießt mich wie einen Flummi von oben nach unten, ohne dass ich die Richtung steuern kann. Ich würde es gerne auf den Winter schieben, aber das wäre zu einfach. Denn das ganze Jahr hat an mir gezehrt, mein Innerstes zerfetzt und dann wieder halbherzig zusammengeklatscht – und ich befürchte, es wird noch eine Weile dauern, bis alles wieder richtig verwachsen ist.

Eine schwere Trennung liegt hinter mir, ich habe zwei Jobs gekündigt, einen wichtigen Menschen in meinem Leben zunächst neu gewonnen und direkt wieder verloren. Vor mir liegt eine Enzyklopädie unbeantworteter Fragen und eine ungewisse berufliche Zukunft. Dann noch diese Stadt, von der ich immer noch nicht weiß, ob sie mich liebt und es nur nicht richtig zeigen kann oder mich eigentlich schon längst loswerden wollte. That’s the dark side of my story.

Auf der anderen Seite fühle ich mich aber frei und dankbar wie schon lange nicht mehr. Ich durfte wieder einmal feststellen, was für wunderbare Frauen ich als meine Freundinnen bezeichnen darf und meine persönliche Krise hat mich näher zu meiner Familie gebracht. Und ich bin stolz auf diese Menschen in meinem Leben, weil sie mich so viel stärker, klüger und schöner machen, als ich es ohne sie wäre. Weil ich trotz zahlreicher Tränen auch lange nicht mehr so viel gelacht habe.

Und während andere sich beklagen, dass die Pandemie uns alle einschränkt, fühle ich mich freier denn je. Weil ich nicht weiß, was kommen wird und das alles möglich macht. Ich habe keinen Plan, was ich nächstes Jahr machen oder wo ich sein werde – und es ist diese Ungewissheit, die mich zuversichtlich stimmt. Das klingt ziellos und vielleicht auch ein bisschen verrückt. Aber wenn ich genau darüber nachdenke, lasse ich mich einfach nur treiben – und das fühlt sich verdammt gut an.

Denn genau aus diesem Zustand heraus entwickelte sich am Ende dieses Jahres doch noch diese Webseite – und meine erste Moderation im Radio. Dadurch habe ich mich endlich getraut meine Bilder öffentlich zu posten. Und genau deswegen werde ich bald einen Podcast gemeinsam mit meiner Freundin starten. Plötzlich mache ich einfach Dinge, über die ich vorher erst eine halbe Ewigkeit nachgedacht hätte. Ich scheiß auf Perfektion – zumindest ein bisschen. Ich habe jetzt Lust und weniger Angst vom Planen ins Machen zu wechseln. Ich habe den Mut Fehler zu machen und mich vielleicht sogar ein bisschen zu blamieren. Denn mal ehrlich – wen interessiert es? Ich habe mir auch schon oft genug Mist von anderen Menschen reingezogen und sie im schlimmsten Fall deabonniert.

Jetzt muss ich plötzlich an ein Buch von Sarah Kuttner denken, welches ich vor vielen Jahren gelesen habe. Wachstumsschmerz. Dieser Begriff trifft es genau – und er ist viel besser als mein politisch nicht ganz korrekter Schizophrenie-Vergleich. Ich leide unter Wachstumsschmerzen. Ich wachse aus meiner Vergangenheit heraus – sie ist mir zu eng geworden. Das tut weh, denn die Erinnerung hängt noch in Fetzen an mir und die Zukunft will mir noch nicht so richtig passen. Aber mit jedem Tag werde ich ein kleines bisschen größer – und neugieriger etwas Neues anzuprobieren.

… Letztendlich war der Tannenwald wohl doch eine gute Wahl.

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