Auf ausgetretenen Pfaden

Was passiert, wenn plötzlich immer mehr Menschen die Natur für sich entdecken? Ein Jahr* Pandemie offenbart, was die stetig steigende Einwohnerzahl bereits andeutete: Es wird eng auf Leipzigs Grünflächen. Freizeit-Aktivitäten verlagern sich nach draußen, Wochenendausflüge auf die unmittelbare Umgebung. Das hinterlässt Spuren und neue Wege. Die Natur weicht zurück und für Ruhesuchende wird es immer schwerer einen Rückzugsort im Grünen zu finden. Eine Geschichte über die Suche nach der Stille auf ausgetretenen Pfaden.

Wenn immer mehr Menschen die Nähe zur Natur suchen, zeigt sich, dass es daheim zu wenig Grün für alle gibt. Darunter leiden Menschen, die draußen gezielt Stille suchen. Und die Natur weicht zurück.

„Stille ist ein Luxus geworden. Die Stille draußen jenseits von Stadtlärm und Geschwätz. Um Dinge wahrzunehmen, die sonst verborgen bleiben. Wie ein Windrauschen oder Blätterrascheln. Oder wenn die Bäume knarzen.“

Ein Frühlingsnachmittag im Leipziger Auwald. Anjas Blick schweift ins Grüne, weicht anderen Spaziergängern aus, während sie erzählt. Rückzug in der Natur zu finden ist für die Leipzigerin existenziell. Es ist ihre Form der Meditation, um der Hektik des Lebens zu entkommen. Doch in den letzten Jahren sei das immer schwerer geworden. Selbst die stillsten Ecken seien in Gefahr, sagt sie. „Da hilft nur noch früh aufstehen. Oder Regen.“ Heute scheint die Sonne.

Die Mittvierzigerin wurde in Leipzig geboren, die umliegenden Waldwege kennt sie auswendig. „Viele sind aus solchen schmalen Trampelpfaden entstanden.“, sagt sie und weist auf eine feine Spur, die sich kaum sichtbar durch den Bärlauch schlängelt. “Aber die schmalen Pfade sind in den letzten Jahren allesamt breiter geworden. Wir biegen gleich in einen ab.“

Der ehemalige Trampelpfad ist heute breit genug, dass zwei Menschen nebeneinander laufen können. Lerchensporn und Buschwindröschen säumen den Weg. Bärlauch verwandelt den Waldboden in einen grünen Teppich, verströmt einen würzigen Duft. Der Wald ist unaufgeräumt. Totholz und die üppige Krautschicht schaffen einen Hauch von Urwaldatmosphäre. Eine Astnarbe sieht aus wie ein Widderkopf. „Ich sammle sowas“, lacht Anja, streicht sich die kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht und zückt die Kamera.

Einige hundert Meter weiter, am Ufer der Pleiße. Anja deutet auf zerknautschte Bärlauch-Büschel, die tapfer versuchen, ihr Territorium zu verteidigen. „Diesen Pfad gab’s vor einem Jahr noch nicht, der ist neu. Ein Corona-Pfad!“

Ein Jahr Pandemie offenbart, was die stetig steigende Einwohnerzahl bereits andeutete. Es wird eng auf Leipzigs Grünflächen. Neue Wege entstehen. Und die alten, wo kein Kraut mehr wächst, werden immer breiter.

Noch ein junger Weg. Vor einem Jahr kaum mehr als ein Trampelpfad. Nun macht er mit zwei Metern Breite dem Hauptweg Konkurrenz. Entwurzelte Bäume halten Menschen nicht auf – sie klettern hinüber oder schlendern herum. Kreieren Schritt für Schritt neue Spuren. Die Suche nach Erholung und Abenteuer gräbt immer tiefere Furchen in die Natur. Die Stille rückt weiter in die Ferne.

Eine kahle Lichtung. Krumme Bäume laden zum Klettern ein. Die Rinde ist teilweise abgeblättert, das Holz darunter glänzt wie frisch gebohnert. „Eine schöne Ecke.“, bemerkt Anja, „Doch früher wuchs da überall Bärlauch. Und die Bäume waren noch nicht kaputt.“

Weiter geht’s. Vorbei an frischen Mountainbike-Trails. Vorbei an Holztipis und einem Bogenschießplatz. Vorbei an verlorenen Taschentüchern, in Stämme geritzte Liebeserklärungen, demolierten Bänken und leeren Bierflaschen.

„Es ist schön, wenn mehr Menschen die Natur entdecken.“, sagt Anja, „Aber da fehlt oft der achtsame Umgang. Dass ein Baum atmet, Wasser zieht, im Winter ruht und so. Der Bezug zum Leben.“ Die Leipzigerin sieht es auch in der Verantwortung der Stadt. Sie müsse dafür sorgen, dass nicht nur mehr Wohn-, sondern ebenso Naturraum geschaffen wird. Und dass Grünflächen besser geschützt werden.

Anjas Garten liegt außerhalb, in Seenähe. Früher wurde hier Braunkohle gefördert, jetzt lockt die Seenlandschaft im südlichen Landkreis zahlreiche Besucher an. Der asphaltierte Weg dorthin ist stark frequentiert. Radfahrer düsen im Slalom um Spaziergänger und wuselnde Hunde. Wer die Ruhe sucht, wird hier nicht fündig. Anja läuft jetzt schneller. „Fluchtgefühle“, murmelt sie. Noch eine Abbiegung. Sie rennt fast. Noch wenige Schritte. Dann endlich: allein.

Umrahmt von hohen Laubbäumen und an einem Bach gelegen, versteckt sich ein wildes Fleckchen Grün. Nicht weit vom Trubel und doch in einer anderen Welt. Ein Geheimnis, das in der glitzernden Abendsonne schlummert. Hängematten baumeln unter Mirabellenbäumen, ein Ruderboot wartet auf den Sommer, altes Laub knistert unter den Füßen. Anja lächelt wieder. Polstert den Holzsteg am Bach mit Kissen aus und schenkt Weißweinschorle in grüne Gläser.

Und dann: Ein Windrauschen, ein Blätterrascheln. Zaghaft, zwischen Mirabellenblüten und Osterglocken, schaut sie am Ende des Tages doch noch vorbei. Die Stille.

*Note: Dieser Text wurde im April 2021 geschrieben. Es sollte eine (meine erste) Reportage werden und ich habe sie im Rahmen einer Bewerbung verfasst, aus der nichts geworden ist. Mir wurde zwar gesagt, es sei keine Reportage im journalistischen Sinn. Aber ich mag sie trotzdem und nenne diese Textform einfach literarische Reportage – denn was nicht passt, muss man einfach passend machen.

2 Comments

  1. Mercedes 17. Januar 2022 at 13:04

    Diese literarische Reportage der ausgetrampelten Tretpfaden….sorry….ausgetretenen Trampelpfade in Zeiten des stärker gewordenen Naturtourismus‘ , mit perfekter Outdoorklamotte und oder batteriesiertem Bergfahrrad, nochmals verstärkt während der Pandemie, hätte auch im ländlich geprägten Saarland geschrieben worden sein können. Auch hier ist die Natur auf der Suche nach Rückzugsgebieten. Yeah! wir haben gerade eine Gemeinsamkeit entdeckt!

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    1. kathikaze 21. Januar 2022 at 10:35

      Es freut mich, dass du dich hier wiederfinden konntest. Liebe Grüße aus Leipzig ins schöne Saarland!

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