Wellen

Nach wochenlanger Düsternis strahlt ausgerechnet heute wieder die Sonne. Ganz so, als wäre sie nie weg gewesen. Frostkristalle funkeln ein letztes Mal verführerisch auf, bevor sie sich zurück in Wasser verwandeln. Ich bin neidisch, wie gern würde ich jetzt mit ihnen tauschen. Selbst zu Wasser werden, einfach wegschmelzen, betäubt von längst vergessener Wärme.

Der Raum, in dem ich sitze, fühlt sich an wie ein schwüler Sommertag. Sonnenstrahlen prallen durch die Fensterscheiben auf mich hinab, so als wollten sie mich herausfordern aufzustehen und nach vorne zu schauen. Doch ich stecke fest in meiner jüngsten Vergangenheit und versuche krampfhaft Regen heraufzubeschwören. Die dunkle Wolkendecke von gestern, wäre mir jetzt lieber. Doch es funktioniert nicht. Aus Frust ziehe ich die Vorhänge zu.

Ich kann die Sonne nicht ertragen, wenn in mir drin ein Unwetter tobt. Meine eigene Dunkelheit erscheint mir durch den Kontrast dann noch bedrohlicher. Ich bin müde, ausgelaugt von den immer gleichen Geschichten, die das Leben schreibt. Fühle mich, als hätte ich bereits zwei volle Leben und nicht erst ein knappes, halbes gelebt.

Und da ich schon nicht das Wetter beeinflussen kann, versuche ich wenigstens mir meinen inneren Sonnenschein zurückzuerobern, mich mantraartig zu beruhigen. Jedes schlimme Gefühl geht vorbei. Es geht immer irgendwie vorbei. Das habe ich erst vor Kurzem wieder irgendwo gelesen und das weiß ich aus eigener Erfahrung.

Besser fühle ich mich durch diese Erkenntnis allerdings nicht. Sie macht den Moment nicht weniger qualvoll. Und es geht ja auch nicht nur das Schlechte immer vorbei, sondern auch das Gute, all die schönen Gefühle. Und von denen hatte ich in den letzten Wochen jede Menge.

Da war die Zuversicht, dass alles, was ich mir in Gedanken bunt ausmale, funktionieren wird. Die Vorfreude auf ein wundervolles Jahr. Auf ein nächstes Treffen. Das warme Vibrieren, wenn ein besonderer Mensch ganz nah ist. Und da war dieser grenzenlose Mut, mich fallen zu lassen. Weil ich fest daran glaubte, dass da irgendwo ein Netz sein wird, das mich auffängt. Da war sogar ein Quäntchen Mut, mich vielleicht wieder neu zu verlieben.

Alles schön und gut und berauschend.

Und ja, wahrscheinlich ist das sogar das Wichtigste im Leben. Sich den positiven, berauschenden Gefühlen vollkommen hinzugeben. Bloß nicht an morgen denken. Jeden schönen Moment bis zum Filter rauchen. Scheiß auf all das Schlechte, was noch kommen mag! Diesen Moment kann mir keiner mehr nehmen. Ich generiere süße Erinnerungen und pinne sie mir wie Postkarten vor mein inneres Auge. Das allein ist es wert. Selbst wenn der Preis dafür hoch sein mag.

Doch wenn man gerade oben steht, fällt es leicht euphorisch zu sein. Schließlich liegt einem die Welt zu Füßen. Wer denkt da schon an den Absturz, der folgen könnte und der umso härter ausfällt, je höher man steht?

Manchmal sind es nur Sekunden, die alles verändern. Eine kurze Nachricht. Eine schlagartige Erkenntnis. Ein anderer Herzschlag. Und bevor ich es retten kann, wird mein Bild, das ich so fleißig ausmalte, mit schwarzer Tinte übergossen. Die Postkarten in Schnipsel zerrissen. Und ich begreife, dass es nichts gibt, was ich tun könnte. Weil die Dinge einfach nicht mehr in meiner Hand liegen. Niemals wirklich in meiner Hand lagen.

Totaler Kontrollverlust.

Was folgt ist die Umkehr der schönen Gefühle. Freudlosigkeit statt Vorfreude. Ein fieses Ziehen anstelle des warmen Vibrierens. Mutlosigkeit. Und die Angst wieder verletzt zu werden. Freier Fall auf Beton, ohne Netz. Auf den Höhenrausch folgt Migräne von zu viel Wein und zu wenig Schlaf. Das ist es dann doch nicht wert, denke ich dann.

Und klar weiß ich, dass das dazu gehört. Ohne Leid keine Freude. Ohne Freude kein Leid. Das Leben verläuft nicht geradlinig und erst recht nicht steil bergauf. Es verläuft in Wellen. Manchmal reitet man auf ihnen, berauscht von Glück und Abenteuerlust. Manchmal geht man fast unter, droht zu ertrinken.

Ertrinken werde ich auch diesmal nicht. Doch schmerzhaft ist es trotzdem immer wieder. Es gibt keinen Trainingseffekt und auch keine Schwimmflügel. Was bleibt ist die Fähigkeit zur Akzeptanz. Die Kraft, die Fäden aus der Hand zu lassen. Und die Gewissheit, dass die nächste Welle die Karten wieder neu mischen wird.

Und schließlich tue ich, was ich am besten kann: es mir von der Seele schreiben. Die Erinnerungsschnipsel wieder zusammenfügen, mit Worten fixieren und sie von einer anderen Perspektive aus betrachten.

Auch diese Welle ist jetzt ein Teil von mir. Ein Teil meiner Geschichte.

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